Neun Jahre nach dem Angriff in Connewitz: Fehlende Aufarbeitung bestärkt Neonazi-Szene

Mehr als neun Jahre sind seit dem Angriff auf Connewitz am 11. Januar 2016 vergangen. Im Windschatten des Demonstrationsgeschehens zum ersten Jahrestag des Pegida-Ablegers Legida überfielen damals rund 300 Neonazis, rechte Kampfsportler und Hooligans gezielt den linksalternativen Stadtteil Connewitz und griffen Menschen, Wohnungen, Kneipen und Geschäfte an. Die juristische, politische und mediale Aufarbeitung bleibt defizitär.
Text von Jule Nagel, erschienen in “Leipziger Zustände”, Broschüre von chronik.LE im Januar 2025

Die ersten Gerichtsverfahren begannen im August 2018, also zweieinhalb Jahre nach der Tat. Ein Großteil der Verhandlungen fand am Amtsgericht Leipzig statt, Berufungsverhandlungen am Landgericht Leipzig. Von 217 Beschuldigten wurden mittlerweile 211 verurteilt. Davon sind 209 Urteile zum Stand August 2024 rechtskräftig.[1] Das bedeutet: In diesen Fällen sind mögliche Berufungsverhandlungen bereits abgeschlossen. Ein Verfahren wurde eingestellt, weil der Angeklagte aus Wurzen im November 2019 verstorben ist. Ein weiterer Angeklagter wurde freigesprochen.

Auch das Verfahren gegen Kai M., ehemaliger Kandidat der NPD zur Stadtratswahl in Leipzig, endete im September 2023 mit einem Freispruch für den Angriff in Connewitz. Antifaschist*innen in der Region galt Kai M. lange Zeit als möglicher Drahtzieher des Angriffes und als Netzwerker, der auch für die überregionale Beteiligung verantwortlich gewesen sei.[2] Die Erörterung der persönlichen Verhältnisse von Kai M. offenbarte eine lange Liste von Vorstrafen: Beleidigung, Sachbeschädigung, Landfriedensbruch, Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Verurteilung wegen des Angriffs in Connewitz und wegen einer Beleidigung eines Polizisten. Sein Verteidiger, der AfD-Politiker Roland Ulbrich, plädierte auf Freispruch. Das Gericht folgte dem Anwalt im Hinblick auf die Tatbeteiligung in Connewitz. Die Staatsanwaltschaft Leipzig legte erst Berufung gegen den Freispruch für den Landfriedensbruch ein, zog diese aber im März 2024 zurück.

Kein öffentlicher Druck, keine Aufklärung

Der Neonazi-Angriff auf Connewitz war 2016 ein bundesweites Thema. Auch die Bewohner*innen des Stadtteils waren verunsichert. Connewitz galt und gilt für viele linke und alternative Menschen und Betroffene von rechter Gewalt in Ostdeutschland als eine Art Safe Space, ein Ort, an dem die permanente rechte Bedrohung nicht so alltäglich ist wie anderswo. Nach dem 11. Januar 2016 war die Angst vor weiteren Angriffen durch Neonazis hoch. Viele fühlten sich an die Angriffe in den 1990er Jahren in Leipzig erinnert.

Die Botschaft der neonazistischen Täter war klar: Es gibt keine sicheren Rückzugsräume vor ihnen, auch die Großstadt und der linke Stadtteil Connewitz sind es nicht. Zu dieser Zeit fanden fast täglich in Sachsen rechte Aufmärsche statt und zahlreiche Asylunterkünfte wurden angegriffen. Mit dem Angriff auf Connewitz wollten sie zeigen, dass sie auch hier den „Volkswillen“ vollstrecken. Von staatlicher Seite wurde in der Folge ebenfalls deutlich gemacht, dass die Täter nichts zu befürchten haben.

Die Aufklärung des geplanten Angriffs von bis zu 300 Neonazis und rechten Hooligans muss als unambitioniert bewertet werden. Im Zuge der juristischen Aufarbeitung sind keinerlei Strukturermittlungen zu den Organisatoren des Angriffs, geschweige denn Hausdurchsuchungen durch die Polizei bekannt geworden. Auch hat der Generalbundesanwalt darauf verzichtet, die Ermittlungen an sich zu ziehen, obwohl eine Planung und eine bundesweite Neonazi-Vernetzung über mehrere Bundesländer ersichtlich war.

Vor Gericht gab es keine Nebenkläger*innen, obwohl Menschen direkt von den Neonazis am Abend angegriffen wurden. Grund war die berechtigte Sorge, dass persönliche Daten von Betroffenen und Zeug*innen in die Hände von Neonazis gelangen würden und bei über hundert Prozessen immer wieder ausgesagt werden müsse. Die Gewerbetreibenden der Wolfgang-Heinze-Straße, deren Läden und Geschäfte attackiert wurden, spielten in den Verhandlungen kaum eine Rolle. Einige berichteten sogar von ungeheuerlichen Verdächtigungen der Polizei gegen ihre Mitarbeiter*innen, was das Vertrauen in die Ermittlungen von Anfang an belastete.[3]

Außerdem wirkt sich die lange Zeit bis zum Start der einzelnen Prozesse strafmildernd aus. Je später nach der Tat das Urteil, desto mehr nimmt das Strafbedürfnis wegen der „konkreten Belastung“ für den Angeklagten ab.

Verpasste Chancen in der Prozessbegleitung

Dennoch wäre in der Rückschau mehr möglich gewesen, um den öffentlichen Druck auf die Behörden und die Täter zu erhöhen. So gab es zwar mit der Prozessdokumentation „Prozess 1101“[4] eine systematische Beobachtung der Prozesse und regelmäßige Anfragen der Autorin dieses Artikels im Landtag. Aber es gelang leider nicht, den Prozessen die nötige und breite Aufmerksamkeit zu verschaffen, wie sie in den ersten Wochen des Angriffs vorherrschte. Die Gruppe „Rassismus tötet!“ – Leipzig versuchte, mit mehreren Kundgebungen vor dem Amtsgericht Leipzig das Thema im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Das gelang nur mäßig.[5]

Regelmäßig gab es Deals zwischen Gericht und Angeklagten, die für sich zumeist in Anspruch nahmen, unwissentlich in Connewitz gelandet und „ganz hinten gelaufen“ zu sein. Diese Deals liefen oftmals nach Schema F ab: Sie beinhalteten ein rudimentäres Geständnis der Täter, am Abend in Connewitz gewesen zu sein, was sich durch die Festnahme nicht leugnen ließ. Dafür wurde diesen ein Strafrahmen zugesichert (in der Regel eine Geldstrafe und eine Verurteilung, die zur Bewährung ausgesetzt wird). Diese Abmachungen wurden auch mit Neonazis getroffen, die nach 2016 weitere Straftaten begingen und meist ohnehin schon eine Reihe an Vorstrafen in ihrer Akte vorweisen konnten.

In Reaktion auf diese Prozess-Abläufe wendeten sich das offene Projekt- und Abgeordnetenbüro linXXnet und die Gruppe „Rassismus tötet!“ – Leipzig im Januar 2021 mit einem kritischen offenen Brief an die Richter*innen des Amts- und Landgerichts Leipzig und forderten, dass die Geldstrafen zugunsten sozialer und kultureller Einrichtungen und Vereine in Connewitz und der Opferberatung RAA Leipzig zu verhängen seien.[6]

Die mediale Berichterstattung über die Prozesse verblieb lokal und regional. Es waren hauptsächlich das Stadtmagazin Kreuzer und die Leipziger Zeitung, die sich den Prozessen regelmäßig widmeten. Dabei wurden nur selten die Hintergründe der angeklagten Neonazis beleuchtet. Exemplarisch dafür, wie dies hätte funktionieren können, ist der Justizvollzugsbeamte Kersten H. Das etwas größere öffentliche Interesse an seinem Prozess war vor allem seinem Status als Beamten geschuldet. Und dem Fakt, dass er trotz der Ermittlungen noch drei Jahre nach dem Angriff im Dienst war und dabei sogar inhaftierte Neonazis bewachte.

Auch die Beteiligung von Tobias B., Geschäftsführer des Sicherheitsunternehmens Pro GSL, das in Leipzig zahlreiche Baustellen absichert, hatte Konsequenzen: Ihm wurde infolge einer Überprüfung auf Grundlage der Gewerbeordnung die Unzuverlässigkeit bescheinigt, so dass er als Geschäftsführer abberufen wurde.[7] Ein Wohnprojekt im Leipziger Westen wehrte sich juristisch und praktisch dagegen, dass der Bezirksschornsteinfeger Christian S., ebenfalls verurteilter Connewitz-Täter, die Zuständigkeit für ihr Haus behält.[8]

Die vielleicht anfängliche Sorge der Neonazis nach der Tat, erhebliche Repression zu erfahren, erwies sich unterm Strich als absolut unbegründet. So verwundert es nicht, dass viele der festgesetzten Täter in Connewitz auch in den folgenden Jahren bei rechten Mobilisierungen und Gewalttaten in Erscheinung getreten sind, wie 2018 in Chemnitz.[9] Die Ermittlungen und die Prozesse gegen die Connewitz-Täter stehen exemplarisch für eine unambitionierte Strafverfolgung von Neonazis in Sachsen. Hier ist die Nicht-Aufarbeitung rechter Gewalttaten die Regel und nicht die Ausnahme. Und genau das ermutigt die Protagonisten zu weiteren Taten, anstatt sie in die Schranken zu weisen.

Juliane Nagel ist für den Leipziger Süden Stadträtin und Abgeordnete im Sächsischen Landtag und seit vielen Jahren antifaschistisch aktiv.

Fußnoten

[1] Kleine Anfrage: Nachfrage zu Drs 7/15227: Stand der Prozesse (und Ermittlungen) in Sachen neonazistischer Angriff in Leipzig-Connewitz am 11. Januar 2016, Antwort vom 22.07.2024, Drs. 7/16693, online abrufbar unter: https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=16693&dok_art=Drs&leg_per=7&pos_dok=1&dok_id=undefined

[2] Antifa in Leipzig (2017): Kai Mose – Organisator des Angriffs auf Connewitz?, online abrufbar unter: https://www.inventati.org/leipzig/?p=4717

[3] Dies ist aus Gesprächen mit den Gewerbetreibenden bekannt geworden. Nur wenige machten öffentlich ihren Unmut deutlich, etwa die Betreiber des Shahia

[4] https://www.prozess1101.org/

[5] Die Gruppe veranstaltete fast zehn Kundgebungen vor dem Amtsgericht Leipzig zu Tätern des Angriffs in Connewitz, online abrufbar unter: https://www.rassismus-toetet-leipzig.org/index.php/archiv.

[6] Mehr als 200 Personen und Gruppen unterschrieben diesen Brief online, eine öffentliche Reaktion darauf seitens der Behörden gab es nicht. Im Wortlaut noch online abrufbar unter: https://web.archive.org/web/20210111160100/https://www.linxxnet.de/offener-brief.

[7] Anfrage im Stadtrat Leipzig: „Überprüfung der gewerblichen Zulassung des Sicherheitsunternehmens Pro GSL“ (VII-F-06409), Antwort vom 10.11.2021. Online abrufbar unter: https://ratsinformation.leipzig.de/allris_leipzig_public/vo020?VOLFDNR=2001670&refresh=false.

[8] Waltz, Manuel (2024): Früher bei Neonazi-Mob in Leipzig-Connewitz, Deutschlandfunk Kultur online abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/rechtsextremismus-frueher-bei-neonazi-mob-in-leipzig-connewitz-dlf-kultur-6f68bdd8-100.html.

[9] Ladenschlussbündnis (2018): Recherche: Imperium Fight Team bei Ausschreitungen in Chemnitz dabei“, online abrufbar unter: https://ladenschluss.noblogs.org/2018/10/01/recherche-imperium-fight-team-bei-ausschreitungen-in-chemnitz-dabei/.

 

Bild: https://la-presse.org/kundgebung-prozess-connewitz-angriff/

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